KLEBNIKOV EN ALLEMAND
LITERATUR UND SACHBUCH
Gegen alle Regeln der Logik, der Zeit und des Raums
Hundert Jahre nach seinem tragischen Tod ist der russische Dichter Velimir Chlebnikov immer noch eine verkannte literarische Größe. Nun erscheint die Neuausgabe von Peter Urbans legendärer Werkausgabe.
Von Noemi Smolik
Chlebnikovs sprachliche Schöpfungen sind Höhenflüge, die bis heute ihresgleichen suchen und die erst im Vortrag voll zur Geltung kommen. Wegen der Biegsamkeit der Worte in den slawischen Sprachen sind sie kaum in eine westliche Sprache zu übertragen. Man nehme nur das Gedicht „Beschwörung durch Lachen“, mit dem Urban die Werkausgabe beginnt. Er lud dazu gleich mehrere Dichter als Übersetzer ein. Hier der Versuch des deutschen Vertreters der konkreten Poesie, Franz Mon: „o lacht auf ihr Lachhälse, o lacht los ihr Lachhälse, was lachen die mit lächere was lachen die lächerlich . . .“
Bald wurde Chlebnikov zur treibenden Kraft der Moskauer Bewegung, da seine zusammen mit Krutschonych verfassten Manifeste den Weg in die Gegenstandslosigkeit bereiteten. So trat er in dem heute legendären Manifest „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“ von 1910 für das „selbsthafte Wort“ ein: als ein Element, das keine semantische Entsprechung in der realen Welt mehr habe. Malewitsch illustrierte dieses Manifest. Chlebnikov und seine Anhänger nannten sich „Budet’ljane“, was irreführend mit „Futuristen“ übersetzt wird. Mit der Endung „jane“, die der Bezeichnung für Bauern, „krest’jane“, entnommen war, beriefen sie sich aber bewusst auf ihre Verbundenheit mit diesen. Ihre Auffassung war somit meilenweit von der der westlichen Futuristen entfernt, die auf den technischen Fortschritt der Großstädte setzten. Als der Futurist Filippo Tommaso Marinetti 1914 in Moskau auf Chlebnikov traf, konnte, wie Jakobson sich erinnert, eine Schlägerei gerade noch verhindert werden.
Chlebnikov war auch einer der Initiatoren der Oper „Sieg über die Sonne“. Das Stück war eine bitterböse, an Absurdität kaum zu übertreffende Parodie auf den Glauben des modernen Menschen, er könnte dank der Naturwissenschaften in der Zukunft alles regulieren. Die Aufführung Ende 1913 (mit ihrer Ausstattung von Malewitsch), während derer das Publikum beschimpft und bespuckt wurde, war ein Riesenskandal. Leider fehlt in der Werkausgabe der von Chlebnikov verfasste Prolog zu dieser Oper. Überhaupt wurde die Auswahl zu sehr unter literarischen Aspekten zusammengestellt. Dadurch geht die Bedeutung Chlebnikovs für die bildende Kunst verloren. Seine absurden Theaterstücke wurden sofort nach Lenins Machtergreifung im Jahr 1917 verboten. Erst nach Chlebnikovs Tod war es Vladimir Tatlin gelungen, dessen Stück „Zangesi“ auf die Bühne zu bringen – in Urbans Ausgabe ist es in voller Länge und mit einem Foto der Aufführung enthalten. Leider ist Tatlins Zusammenarbeit mit Chlebnikov kaum bekannt, weil sie ins Bild von Tatlin als rationalem Konstruktivisten nicht passte.
Ergänzt ist die Neuausgabe um das 1921 verfasste Gedicht „Der Vorsitzende der Tscheka“. Es ist mit Versen wie „Die Leichen warf man aus dem Fenster in den Abgrund“ und „Müllgruben waren oft der Sarg und Nägel unterm Fingernagel Schmuck der Männer“ eines der erschütterndsten Zeugnisse des bolschewistischen Terrors. Wer solche Verse schrieb, musste selbst fürchten, in die Mühlen der Tscheka zu geraten. Als 1921 der Dichter Nikolaj Gumilev, der als Chefredakteur der Kunstzeitschrift „Apollon“ ein großer Förderer der Kunst Gontscharowas, Larionows, Malewitschs und Tatlins war, ohne Gerichtsverfahren erschossen wurde, begab sich Chlebnikov auf die Flucht, die ihn in den Kaukasus und wieder zurück nach Nowgorod führte. Außer einem Kopfkissen, in dem er seine Manuskripte aufbewahrte, besaß er nichts mehr. Im Sommer 1922 starb er mit nur 37 Jahren an Hunger und Erschöpfung.
Velimir Chlebnikov: „Werke“. Hrsg. und aus dem Russischen von Peter Urban u. a. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.695 S., geb., 68,– €.