Kasimir Malewitsch, Schwarzes Kreuz, 1915
Mit dem Schwarzen Viereck (in der Folge Schwarzes Quadrat genannt), dem Schwarzen Kreuz und anderen Gemälden, die Ende 1915 in der Ausstellung »0,10« in Petrograd gezeigt wurden, wollten die Suprematisten die Darstellung der gegenständlichen Welt auf die »Null der Formen« reduzieren. Der eingeschlagene Weg sollte aber über die Null hinaus führen: »Ich dagegen habe in der Null der Formen eine neue Gestalt gefunden und bin über die Null hinaus zum Schöpferischen gelangt, d. h. zum Suprematismus, zum neuen Realismus in der Malerei, zum gegenstandslosen Schaffen«, schrieb Kasimir Malewitsch.
In der in Russland geführten ästhetischen Debatte über die Farbe blieben die Forschungen Michel-Eugène Chevreuls zur optischen Farbenlehre unbeachtet. Für Malewitsch ist Farbe eine Energie, die aus dem Material hervorgeht. 1920 schrieb er: »Der Suprematismus beruht vor allen Dingen auf zwei Grundlagen: den Energien Schwarz und Weiß, die der Entfaltung der Formen von Wirkung dienen. Ich habe dabei nur die rein utilitarische Notwendigkeit der ökonomischen Verkürzung im Auge, weshalb das Farbige entfällt.«
Alle Farbgestaltung entwickelt sich bei Malewitsch aus der Empfindung heraus: »Man muss von der Entsprechung der Farbe mit der Empfindung sprechen.« Das Schwarze Kreuz, so notierte Malewitsch auf einer Zeichnung von 1927, ist »das dritte grundlegende supremat. Element in Kreuzform«, nach dem Schwarzen Kreis, der die zweite, aus dem Quadrat hervorgegangene suprematistische Form bildet. Formal besteht das Schwarze Kreuz aus zwei mittig verschränkten rechteckigen Flächen. Um exakte Geometrie geht es hierbei aber ebenso wenig wie beim Schwarzen Quadrat. Eine leichte Biegung der Achsen dynamisiert die Stabilität dieser Kreuz-Architektur auf dem weißen Raum der Leinwand. Wie bei Quadrat und Kreis besteht auch beim Kreuz ein Spannungsverhältnis zwischen dem Statischen und dem Dynamischen. Nichts scheint sich zu bewegen, und zugleich ist alles auf dem Sprung oder am Rande des Untergangs – wie im Paradoxon des Zenon von Elea, für den der fliegende Pfeil eigentlich unbewegt ist.
Das Schwarze Kreuz ist Körper der Welt und zugleich Abbild der Welt. Es ist eine universale Grundform, und doch sieht man darin fast zwangsläufig auch einen Verweis auf das christliche Kreuz. Diese Assoziation war so augenfällig, dass das Werk 1930 als »Überschneidung zweier Flächen« – statt als »Kreuz« – bezeichnet wurde und dass 1935 auf Malewitschs Sarg nur Quadrat und Kreis gemalt wurden. In seinem 1927 verfassten Manuskript über die »verschiedenen Entwicklungsphasen des Suprematismus« demonstrierte der Maler in einer Reihe von Skizzen »die Entwicklung des kreuzförmigen Elements aus kosmischen, mystischen Empfindungen«. Wenn das Schwarze Quadrat ein Gesicht ist, das »Antlitz der neuen Kunst«, dann ist das Schwarze Kreuz gleichsam eine Figur, die neue Figur des Menschen und der Welt, verbunden in einer einzigen, unteilbaren Wesenseinheit.
Jean-Claude Marcadé